4 GOSSIP OPERAS

ZUR KOMPOSITION „Bombenterror im Urlauberparadies! Mutter isst Leiche ihres Babys! Lady Gaga ist ein Mann!“ – flüstert der Chor der Schweinegrippe-Hysteriker. Und beschwört gleich darauf 1. den allgemeinen Verfall der sittlichen Moral durch ungezügelte Lust, 2. die Kunst als wahren Motor für Reichtum, Ruhm und Prominenz, zerstört so ganz nebenbei 3. eine stille Liebe durch giftigen Tratsch und zeigt 4., dass auch aus einem vom Schicksal getretenen Kannibalen ein Mensch wie du und ich werden kann. Als Musiktheater-Komponist immer auf der Suche nach „dem“ Libretto – nach einem wirklich brauchbaren, vertonbaren Buch – kann es manchmal passieren, dass man eher zufällig über „seinen“ Stoff stolpert. Einige Meldungen des Billig-Boulevards, zunächst routinemäßig überflogen, um anschließend – wie so oft – dem Altpapier-Container übereignet zu werden, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Sujets von wahrhaft opernhafter Dimension. Diese vier auffallend grotesk gefärbten, teils schaurig-bizzaren, ins Auge stechenden Kurzmeldungen, scheinbar wahllos aus dem unüberschaubaren Wust der Gratiszeitungsformate und Billig-Blätter gezogen, verbindet mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Hinter diesen ursprünglich schnell hin- und dem sensationsgierigen Konsumenten zum Fraße vorgeworfenen Skizzen, verbergen sich typische, zu zynischen Randnotizen, Stenographien der Yellow Press verkommene Abrisse tatsächlicher menschlicher Tragödien. Existenzielle Mini-Dramen von ungeahnter Dimension, in denen allesamt die großen Themen vorherrschen: Liebe, Lust, Sexualität, Moral, Kunst, Geld, Leben und Tod – große Oper eben. Bei der Fertigung des Librettos war, auf Grundlage musikdramaturgischer Überlegungen, schnell klar, den Gratiszeitungs-Konsumenten selbst zum Träger, zum „Main Character“ des Geschehens zu machen. So bildet der im Prolog, Epilog und den Intermezzi etablierte Chor der „Schweinegrippe-Hysteriker“ den dramaturgischen Rahmen der vier Kurzopern und damit die eigentliche Grundspur des Abends. Er fungiert dabei als Kontradiktion dessen, was man im klassischen Drama gemeinhin als „Griechischen Chor“ bezeichnen würde: Er kommentiert nicht die Handlung, sondern provoziert sie vielmehr und verfällt gewissermaßen selbst dem Magnetismus der von ihm beschworenen Sujets. In diesem Zusammenhang kompositorisch bemerkenswert und für das Genre möglicherweise untypisch ist, dass innerhalb der Kurzopern ein offener „rezitativischer“ Stil vorherrscht. Der musik-theatralische Erzähl-Fluss – schon mit dem Libretto konzipiert – wäre andernfalls durch die Etablierung in sich abgeschlossener musikalischer Formen wie Arien, Lieder, Songs etc. empfindlich gestört worden und ins Stocken geraten. Einzig im Prolog, Epilog und den drei Intermezzi finden wir, dem Erzählcharakter entsprechend, im Unterschied zu den vier textual frei fortgesponnenen Opern-sujets, ausschließlich aus Original-Schlagzeilen montierte geschlossene musikalische Formen. Sie geben dem Gestus des kolportagehaften „Textmülls“ erst die überhöhende opernhafte Wucht. Ebenso fiel, im Bedürfnis nach gleichzeitiger Reduktion der musikalischen Mittel, die Wahl auf ein schlankes klassisches Ensemble dreier Schauspieler-Sänger (Sopran, Tenor, Bariton), dem ein ebenfalls dreiköpfiges Instrumental-Ensemble (Violine, Bassklarinette/Saxophon, Klavier) gegenübersteht. Widersprüchlichkeit ist der wohl bemerkenswerteste Grundzug der menschlichen Natur: Nichts scheint ihr zu billig, nichts zu abartig, um sich nicht doch gelegentlich, natürlich vollkommen glaubwürdig, mit vollem Herzen dem Guten, dem Reinen, dem Schönen, der Muße hinzugeben. Wie weit diese Spanne reichen mag, zeigt in 4 Gossip Operas vielleicht das Motiv des menschlichen Herzens: Entbrennt es in Je t’aime in Gestalt des Liebeshungrigen zunächst in abgöttischer Liebe zu einer Schaufensterpuppe, so hat sich in Guten Morgen Herr A. der mutmaßliche Kannibale A. längst vergewissert, dass es sich bei diesem mythosbelasteten Organ – nach eigener Erfahrung – nur um einen kalten Klumpen blutigen Fleisches handeln kann. Kurz gesagt: Je blutrünstiger, desto kunstsinniger – je trashiger, desto opern-hafter. Vier „vertonte“ Zeitungsmeldungen des Billig-Boulevards als opernhaftes Zerrbild der menschlichen Natur. Alexander Kukelka, November 2009

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