Spielräume

  • Elfriede Gerstl
  • gestreamt aus Bar&Co
  • Online-Premiere am 07. April um 20 Uhr
    weitere Streaming-Termine: 9. und 10. April 2021 um 20 Uhr

    Tickets: www.eventbrite.at
    Kartenpreis: € 15.-


































 

Spielräume ist eine ineinander verschachtelte Geschichte, die sich zwischen Innen und Außen abspielt, ein feministischer Text, in dem eine Frau ihre eigene Wirklichkeit hinterfragt und mit inneren und äußeren Klischees abrechnet. Ein Text, der Sprachgrenzen auslotet, Bilder entstehen lässt, poetisch und musikalisch ist. Ein Spiel mit Verschiebungen, eine scharfsinnige, philosophische Hinterfragung der Wirklichkeit, ein offener Text, der zum „Spielen“ auffordert, ähnlich wie die Stücke von Elfriede Jelinek, die Elfriede Gerstl auch als ihr literarisches Vorbild bezeichnete.

Szenische Einrichtung, Regie: Tania Golden
Texteinrichtung, Dramaturgie: Susanne Höhne
Musik: Anna Starzinger
Mit: Shlomit Butbul, Tania Golden, Erni Mangold

Rechte bei Literaturverlag Droschl Graz

Das Projekt wird gefördert durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich

Hirnederln in Berlin: Elfriede Gerstls "Spielräume" in der Drachengasse

Szenische Lesung mit Erni Mangold: Online-Premiere des Romans über die 1960er-Jahre in Berlin

Elfriede Gerstl: "manche kommen aus dem staunen nicht heraus / manche nie hinein".

Elfriede Gerstl (1932–2009) und Erni Mangold – das ist ein Match. Der Schriftstellerin eignete wie auch der Schauspielerin ein maliziöser Wiener Schmäh. Gerstl bündelte ihn im geschriebenen Wort, und Mangold intoniert ihn nun als Grit aus dem Roman Spielräume mit allen nötigen teufelaustreiberischen Zischlauten im Theater Drachengasse. Wenn sie "geküsssst" sagt, dann schießt eine Kugel durch die Luft.

Der Verein Beseder würdigt im kleinen Wiener Innenstadttheater die viel zu selten rezipierte Dichterin, die lange Zeit auf einen Randplatz in der Wiener Schriftstellerszene der 1950er- und 60er-Jahre verwiesen blieb. Der Droschl-Verlag, der die fünfbändige Werkausgabe ediert hat, wirbt für sie mit dem passenden Zitat "manche kommen aus dem staunen nicht heraus / manche nie hinein". Das lässt sich auch für den von Tania Golden als szenische Lesung eingerichteten Premierenabend im Bar&Co-Raum der Drachengasse sagen. Er hätte bereits im Dezember stattfinden sollen und läuft nun online über den Kanal Eventbrite.

Partynächte, Nachbarschaft

Hier findet man ins Staunen nicht immer hinein. Mangold ist per Videobild auf die Bühne zugeschaltet, wo Golden, Shlomit Butbul und Anna Starzinger am Cello rezitationsbereit vor ihren Notenständern sitzen. Allerdings bleibt Mangold dort als abgefilmtes Filmbild fern und dementsprechend ungesehen, was bedauerlich ist und verschwenderisch erscheint. Nur wenige Male zeigt der Stream direkt das Gesicht einer Frau in Nahaufnahme, die sich mit gehobenen Brauen an denkwürdigen Erlebnissen im Berliner Exil der Sixties festbeißt und sie in deklinatorischen Lyrikformen kommentiert: Partynächte, Nachbarschaft, Kaffeehausbesuche, politische Demonstrationen. Vier, fünf Mal wird diese Atmosphäre auch mit Schwarz-Weiß-Bildern illustriert.

Corona-Bedingungen lassen an diesem zurückgenommenen Abend grüßen. Umgekehrt legt die (etwas überprononcierte) Rezitation von Golden und Butbul Lunte genug, um die Texte auflodern zu lassen. Wer nämlich Worte wie "Hirnederl" oder "Seicherl" ganz unangestrengt auf Wienerisch aussprechen kann, hat schon gewonnen.

Menschenförmig

Dort, wo es zombiehaft wird, erweist sich Elfriede Gerstl als eine Wegbereiterin für nachkommende Autorinnen wie Lydia Haider. Da heißt es etwa, dass "Passanten doch über Nacht blutgefüllte menschenförmige Säcke aus dünner Plastikhaut geworden" sind (Textfassung: Susanne Höhne).

Möge Gerstls experimentierfreudige Literatur, ihre unprätentiöse Poesie öfter von Bühnen entdeckt werden. Sie trägt performative Gene in sich.

Der Standard, 9.4.2021


Günter Grass, die Kapplstudenten und die Kumpels mit Lidstrich

„Ich bin ein kleines Pinkerl und setzt mich in ein Winkerl, und weil ich nichts kann, fang‘ ich nichts an“, rezitiert Erni Mangold und lächelt verschmitzt. Jahaha, weil man ihr genau das glauben mag! Das 94-jährige ewige Mädchen hat sich aus St. Leonhardsberg zugeschaltet, um eine zu ehren, die sie bei keiner ihrer Lesungen vergisst: die österreichische Literatin Elfriede Gerstl.

Dramaturgin Susanne Höhne hat deren surrealistischen Roman „Spielräume“ für die Bühne adaptiert, Tania Golden hat den Text szenisch eingerichtet und spricht nun gemeinsam mit der „Gerstl-Botschafterin“ Mangold und Shlomit Butbul drei Aspekte der Figur Grit – Butbul, Golden und Mangold als Dreieinigkeit des Alter Egos der Autorin. Die Musikalität, den Rhythmus der Sprache unterstreicht Cellistin Anna Starzinger, die, wenn sie nicht den Bogen führt, als eine Art Gerstl №4 in die Tasten einer mechanischen Schreibmaschine hämmert. Online-Premiere war gestern, als Live-Stream aus dem Theater Drachengasse, weitere Termine sind am Freitag und Samstag.

„Spielräume“ ist eine Sammlung von Gedankensplittern, tagebuchartigen Notizen und experimentellen Arrangements, entsprungen jenem Kopf der Grit, in dem sich die Zuhörerin, der Zuhörer ebenso frei bewegt, wie die Protagonistin in der Berliner linksintellektuellen Szene der 1960er-Jahre. Grit ist Teil einer Gruppe österreichischer Emigranten, die sich aus der heimatlichen Enge Richtung der beginnenden Jugend-Protestbewegung abgesetzt haben, wo sie nun – bevorzugt im von ehrbaren Bürgern gemiedenen „Ausländercafé“ Kleist „herumgammeln“: Man zieht von Festl zu Fest „oder was man so nennt“, sät und erntet nicht, sondern säuft und kifft – Mangolds Zweizeiler dazu: „Was der Bauer nicht kennt, raucht er nicht“, diskutiert sich heiß und plant wilde Aktionen.

„Herumgammeln“, welch Wiederhören mit einem im Zeitgeist verlorengegangenen Wort, derart bietet die Gerstl allerhand, im Prater etwa geht ein „Platzregen aus Krachmandeln“ nieder, dabei ist dies jahrzehntelang vergessene Werk, das dringend nach einem Spielraum verlangte [2003 gab’s eine Uraufführung mit Erni Mangold, Vera Borek und Peter Ponger am Klavier], brandaktuell. Aus den "Spielräumen" stammt das viel zitierte Wittgenstein-Derivat, das als Motto über Gerstls Schaffen stehen könnte: „Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen“, und das können die drei Damen großartig.

Furios und fordernd ist dieser von ihnen gestaltete Abend, der in der Küche von Grits xenophober Vermieterin beginnt, die von der Untermieterin verlangt, sie „Tante“ zu nennen, wie Tania Golden da das Gesicht verzieht – ist es Freundlichkeit, Falschheit, Feigheit, die „gute Erziehung“, dass sie der im Fremdenhass schwelgenden Frau nicht widerspricht?, bevor sie mit Shlomit Butbul Gerstls „Analogieschlüsse“ zum Besten gibt: Kuchenduft – Kohlehydrate – Achselschweiß – schmutziges Geschirr – Scheiße.

An das Sch-Wort muss man sich gewöhnen, ganze Absätze handeln davon. „Es sind die kleinen Brüche und sanften idiomatischen Irritationen, die den Reiz dieser uneitlen, präzisen Wortkunst ausmachen, in der Trauer und Ängste ironische Masken tragen, frei von Phrasenschmuck und ohne sich selbst zu verraten“, schrieb weiland der Wiener Germanist Ulrich Weinzierl über die Gerstl in der FAZ. Und wie sie verweigern sich nun Butbul, Golden und Mangold dem preziös Prätentiösen. Sie machen aus „Spielräume“, dieser verschachtelten Geschichte zwischen Innen und Außen, ein Theaterstück mit frei wählbaren Rollen. Ein Spiel mit Verschiebungen, eine scharfsinnige, philosophische Hinterfragung der Wirklichkeit, die noch dazu äußerst humorvoll geschieht.

Immer wieder fährt Grit mit dem Zug die Strecke Wien-Berlin, der Städtewechsel soll das Leben ändern, doch muss sie erkennen: „Fast überall ist fast überall“. Zum strengen Urteil übers Umfeld gesellt sich Grits meist missglückende „Selbstreflexion“, Weltpolitik wird bei sich leerenden Bierflaschen erörtert, und ganz Wiener Gruppe stellt Gerstl kritisch fest, um in dieser Gesellschaft voranzukommen, müsse man „ein Arsch werden, der auf jedes Häusl passt.“ Das ist schon Subkultur, wenn sich die Niederösterreicherin Erni Mangold die „Landesmuttersprache“ verbietet. Schön auch die Formulierung von den Medien, die „im Brustton der Borniertheit“ berichten.

Wie die Schriftstellerin kennen auch die Schauspielerinnen keine Scheu vor den Banalitäten des Alltags, jede Alltäglichkeit wird zum avantgardistischen Experiment, und weil „Spielräume“ ein feministischer Text ist, sind die Männer die Witzfiguren. Genüsslich lassen sich Butbul und Golden die Exemplare auf der Zunge zergehen, die Kapplstudenten beim Heurigen und ihre Nazi-Vettern in Parlament, die Alkoholiker von Rang, die Sadomaso-Zwiebelrostbraten-Fresser, die Kumpels mit dem Lidstrich und die Latzhosenträger.

Die Kinder der Kleinbürger, Kleinsparer, Kleingeister, „klein, klein, klein“, die Prügelknaben, die zu Prügelvätern wurden, die Männer, die sagen, man solle sich dran gewöhnen und einfach nicht mehr hinhören. „Er ist in seinem Kopf“, heißt es an einer Stelle über einen geistig abwesend Wirkenden. „Ist das ein Grund zu verzweifeln?“ – „Wenn man er ist, ja!“ Dazu projiziert Golden Bilder von Protestmärschen, der perfekten Familie, von Gerstl selbst. Konzipiert im Jahr 1968 vergleicht Gerstl in „Spielräume“ die Berliner Revolutionäre mit dem Wiener „Nur Ruhe!“-Denken. Und sie beschrieb ihre Sorge, als weibliche Intellektuelle angemessen zu leben. „Du bist ein Trampel“, sagt ein Textfragment einmal zu ihr.

Tania Golden hat das alles in Kapitel unterteilt, zu denen Anna Starzinger die Stichworte liefert. Ein Kabarettsketch das eine, in dem ein paar österreichische Heimaturlauber im VW-Bus wieder nach Deutschland einzureisen begehren, und die „importierte Dreideutigkeit“ frei nach Karl Kraus am sprachlichen Unverstand des pragmatischen, heißt: urdeutschen Grenzers scheitert. Da nützen weder blondes Haar noch blaue Augen, und auch kein Hinweis aufs „achtbare Nachbarland“ – „der Emigrant lebt von der Hand in die Hand und seinem bisschen Verstand“, schließt Golden.

Mit reichlich Witz und bösem Schalk vermitteln Shlomit Butbul, Tania Golden, Ernie Mangold und Anna Starzinger Elfriede Gerstls von liebevoller Beobachtungslust begleitete scharfsinnige, scharfzüngige Gesellschaftsanalyse. Nach einer Hommage wie dieser im Theater Drachengasse muss diese wiederzuentdeckende Literatin noch lange nicht den Hut nehmen.

Zum Text: Elfriede Gerstl wohnte zwischen 1963 und 1971 zeitweise in Berlin, dort war sie eingeladen, am Berliner Colloquium teilzunehmen. Günther Grass, der an der Schreibschule unterrichtete und viele Jahrzehnte lang als „die Stimme der deutschen Literatur“ galt, kritisierte Gerstls Arbeit derartig, dass sie dadurch ihren bereits unterzeichneten Vertrag bei Rowohlt verlor und große finanzielle Einbußen erlitt. „Öffentlich von Grass zsammgstaucht: Aichinger-Einflüsse, Poesel, alles kunstgewerblich, perfektioniert geschriebene Variante von Bekanntem. Zwar verteidigen mich meine Kollegen Born, Fichte, aber auch die anderen so gut sie können, aber Grass ist ein Brocken, den viele kleinere nicht aufheben können“, zitiert sie Herbert J. Wimmer 1964.

Antisemitismus-Vorwürfe gegen von Günter Grass wurden erst in späteren Jahren Thema der Literaturkritik. Der aus den Erfahrungen Gerstls in Berlin entstandene Roman „Spielräume“ wurde schließlich nicht von Rowohlt verlegt, sondern erst 1977 beim Verlag Edition Neue Texte, Linz. Die Haltung von Günter Grass und seinen Jüngern trug stark dazu bei, dass sich der deutsche Literaturmarkt gegenüber experimenteller Literatur auf Jahrzehnte hin verschlossen hatte. Heute wird „Spielräume“ von der Literaturwissenschaft als Meisterwerk angesehen.

Über die Autorin: Die 1932 in Wien geborene und 2009 in Wien gestorbene österreichische Schriftstellerin Elfriede Gerstl war lange ein literarischer Geheimtipp, heute gilt sie als eine der größten Dichterinnen der deutschsprachigen Moderne. Als jüdisches Kind überlebte sie den Nationalsozialismus in Wien in verschiedenen Verstecken.1945 besuchte sie eine Maturaschule, die sie 1951 erfolgreich abschloss. Ein anschließendes Studium der Medizin und Psychologie brach sie 1960 ab, daraufhin Heirat und Geburt einer Tochter. Veröffentlichungen von Elfriede Gerstl sind seit 1955 erschienen.

Sie war die einzige Frau im Umkreis der Autoren der „Wiener Gruppe“ und der frühen Aktionisten. Von 1963 bis 1971 hielt sie sich wiederholt längere Zeit in Berlin auf. „Spielräume“ aus dem Jahr 1977 (erhältlich bei www.droschl.com/buch/spielraeume/) blieb der einzige Roman von Elfriede Gerstl. Ihre jüngere Freundin Elfriede Jelinek erklärte sie zu ihrem Vorbild. In ihren letzten Lebensjahrzehnten erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, etwa den Erich-Fried-, den Georg-Trakl- oder den Heimrad-Bäcker-Preis sowie die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold.

Mottingers-Meinung.at, 8.4.2021


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