Ein Haus in der Nähe einer Airbase

RÜCKEROBERUNG DER HEIMAT von Akın Emanuel Şipal

Baba Evi bedeutet Vater-Haus. Über diese Bedeutung hinaus ist es ein geflügeltes Wort, ein Begriff für einen Ort, an dem Transgenerationalität gelebt wird: Das Haus der Mütter und Väter, also ein Haus, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der Begriff ist besonders aufgeladen, es gibt einen Roman mit diesem Namen von Orhan Kemal und eine bekannte türkische Fernsehserie aus den 90er Jahren. Wie steht es heute um Baba Evi?

Durch zerklüftete Lebensläufe, häufiges Umziehen, das Leben in verschiedenen Ländern usw. kann man nicht mehr einfach in das Baba Evi einziehen. Entweder weil es verkauft ist oder eingestampft und Sozialbauten gewichen. Wenn man das Baba Evi als Konzept von Heimat nicht aufgeben will, dann muss man es aktiv gestalten, eine eigene Vision von Heimat entwickeln. Heimat ist ein vielschichtiger Zusammenhang von Familie, Freundschaft, Arbeit, Alltag, Heimaturlaub, Sprachen, Ritualen usw. Man kann schlecht sagen: „Heimat, das ist dieser eine Ort.“ — wenn es zum Alltag gehört, dass man die meiste Zeit unterwegs ist. Wenn zum Beispiel türkischstämmige Deutsche in der Türkei Immobilien kaufen, dann ist das keine Abwertung von Deutschland als Ort, sondern der Versuch einem komplexen Heimatbegriff gerecht zu werden. Die Türkei stellt für viele türkischstämmige Deutsche immer auch ein gewisses Abenteuer dar. Wie soll ein Ort uneingeschränkt Heimat sein können, an dem nur Ferienerinnerungen haften und die Erzählungen der Großeltern? Nicht wenige sprechen die Sprache sogar nur noch so dürftig, dass sie sich, gerade so, verständigen können und jene, die dort leben sofort erkennen, dass es sich um eine aus ihrer Perspektive beinahe schon traurige Form von Heimattouristen handelt. In gewisser Weise ist es dann beides: Heimat, weil der Ursprung der Familie dort liegt, und Abenteuer, weil einem nicht selten 50 Jahre Geschichte des Landes fehlen oder zumindest emotional nicht nachvollziehbar sind.

Im Blick auf die Türkei manifestiert sich eben nicht nur Heimweh, sondern vor allem Fernweh. Wie deutsche Urlauber zum Beispiel Italien idealisieren und es selten als Störfaktor empfunden wird, dass es die Mafia gibt, dass sie Menschen verschwinden lässt, dass sie unseren Giftmüll im Süden Italiens verbuddelt und bis in die höchsten Ebenen der europäischen Wirtschaft vernetzt ist. Dieses Idealisieren hilft uns, die positiven Aspekte eines Ortes, eines Beziehungsgeflechts zu sehen, und es ist nicht zuletzt ein wesentlicher Teil davon, eine Vision zu entwickeln, ob es nun eine Vision von Abenteuer oder Heimat ist. Erst wenn man über das hinwegsieht, was da ist, kann man irgendwo eine Zukunft für sich erkennen. Ich meine damit nicht, dass man wegsehen sollte, im Gegenteil — auch um Missstände beseitigen zu können, muss man wissen, wo man anknüpfen kann. An welche konstruktiven, schöpferischen Elemente einer Gesellschaft kann man anschließen, um etwas neues, menschenwürdigeres zu gestalten? Es hilft zu verstehen, dass das Idealisieren wesentlicher Bestandteil davon ist, ins Gestalten zu kommen. So wie Sportler*innen im Mannschaftssport einen Kreis bilden und sich laut Mut zusprechen und sich in ihrer Emphase vielleicht etwas selbst überschätzen — genau darum geht es, über die Gegenwart hinauszuwachsen und die Möglichkeit des Misslingens nicht als Hemmnis zu erfahren, sondern als Ansporn. Eine Zukunft sehen und diese gestalten zu können hat einen wesentlichen Anteil daran, wie wir unsere Gegenwart wahrnehmen. Es muss eine gewisse Sicherheit geben, aber eben auch Raum, in dem man der eigenen Neugierde nachgehen kann. Die menschliche Existenz im Allgemeinen bewegt sich zwischen diesen Polen: Bindung und Exploration; Heimat ist ein Aspekt von Bindung. Am Ende kann bzw. muss Heimat eine Collage sein, die wir so an einem Ort gar nicht mehr wiederfinden können. Heimat ist ein Begriff, den wir immer wieder neu konstruieren, der unterschiedliche Deutungen erfährt, je nach Vorliebe, Lebensphase, Erbe, Epoche… Aber bei allen unterschiedlichen Deutungen scheint mir, dass Heimat immer dann ein lebenswertes Konzept ist, wenn es eine gewisse Mehrdeutigkeit aushält.

Im Stück verschwimmt für die Familie die Grenze zwischen Zuhause und Abenteuer verschwimmt. Die Grenze ist fließend, weil sich die Familie mit dem Ort identifizieren möchte und die Bindung nach Adana pflegt. Diese ist aber nicht unbedingt organisch gewachsen, sondern durch einen bewussten, aktiven Impuls reaktiviert oder wiederbelebt worden, weil es irgendwann einmal Brüche gegeben hat. Über den doppelten Bruch erfahren wir nicht viel im Stück. Der erste Bruch ist, dass die Familie irgendwann einmal aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist und der zweite Bruch, der streng genommen keiner ist, zeigt sich in der Erkenntnis, dass der erste Bruch nie verwunden werden kann. Wir sehen eine Familie, die einen kreativen Umgang mit einer Heimatkonfusion findet und sich daran abarbeitet, sich in dieser alten neuen Heimat wiederzufinden. Es ist Bindung und Exploration in einem: die Rückeroberung der Heimat. Das Schicksal emigrierender Menschen liegt darin begründet, dass sie einen konkreten Punkt haben, auf den sie ihre Sehnsüchte projizieren können.

Es gibt diese Geschichte des Ali Ufki, der, bis er 12 Jahre alt war, noch den Namen Wojciech Bobowski trug. Der junge polnische Adlige wurde vor 400 Jahren auf einem Tartarenfeldzug gekidnappt und in Istanbul an den Hof des Sultans verkauft. Der junge Pole hatte eine sehr gute musikalische Ausbildung genossen und der Sultan förderte diese Musikalität weiter. Bobowski bzw. Ufki lernte die spirituelle osmanische Musik kennen und komponierte eine ganze Reihe von Liedern, die heute nach wie vor gespielt werden. Sie sind fester Bestandteil des Kanons der spirituellen osmanischen Musik. Bobowski lebte also in Istanbul, war ein angesehener Komponist und Mittler zwischen europäischen Diplomaten und dem Sultan, er sprach sieben Sprachen usw. Über den Kontakt mit europäischen Diplomaten entwickelte er den Wunsch nach England zum emigrieren. Diesem Wunsch kam der Sultan aber nicht nach. Also starb Bobowski ohne seinen Traum realisieren zu können. Man könnte sich also einerseits fragen, wieso Bobowski den unbedingt Wunsch hegte nach Europa zurückzukehren und nach England zu emigrieren, obwohl er das Land ja nur aus Erzählungen kannte, während er in Istanbul zur absoluten Oberschicht gehörte und Zugang zu allen Ressourcen hatte. Aber natürlich kann man sich sehr gut vorstellen, wie stark die Sehnsucht dieses Menschen gewesen sein musste, den Ort zu verlassen, an den er gegen seinen Willen gebracht wurde. Was so verblüffend daran ist, dass sich dieses Heim- bzw. Fernweh und überhaupt die Sehnsucht, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, Ausdruck finden in islamischer mystischer Musik, die von einem ursprünglich katholisch Erzogenen polnischen Adligen komponiert wurde. In dieser Musik verdichtet sich eine tiefe Emotionalität, die damals wie heute für verschiedene Kontexte funktionierte. Für die Zuhörerschaft drückte die Musik die spirituelle Botschaft über das Trauma der Menschen über die Abspaltung von Gott aus und die Suche nach einer Wiedervereinigung mit ihm (was ja der Inhalt der sufistischen Suche ist) und für Bobowski und uns heute darüberhinaus auch die Heim- bzw. Fernweh, die er gehabt haben muss.

Dass Heimat sich nicht auf Orte beschränken muss, bedeutet aber nicht das nicht Orte auch eine eigene Identität haben, die genauso dynamisch und vielgestaltig ist, wie die der Menschen. Es ist verblüffend, wie stur Landschaften bzw. Orte sich nationalen Erzählungen entziehen, wie sehr sie bestimmte menschliche Verhaltensweisen kulturübergreifend evozieren, die einen offenen Widerspruch zu den von den Menschen mitgebrachten Erzählungen darstellen. Ein einfaches Beispiel: Berge sind von Menschen schwer zu kontrollieren, Berge sind widerständig, also sind auch die Menschen, die in ihnen leben nicht selten widerständig. Man muss sich nur die Geschichten diverser Bergregionen ansehen, sie sind voll von Widerstand, Kämpfen, Eigensinn, Autonomiebestreben usw.

Es ist zum Beispiel auch interessant, wie einige Gated Communities in Adana aus den 80er Jahren Gated Communities in Kalifornien aus derselben Zeit nachempfunden sind, vielleicht weil es visuelle, teilweise klimatische Übereinstimmungen mit Kalifornien gibt. Adana und seine Umgebung jedenfalls haben eine starke eigene Realität. Das bedeutet nicht, dass es besser ist als irgendwo sonst in der Türkei: Adana und Umgebung sind in jedem Fall anders, als alles was man in Deutschland über die Türkei zu wissen glaubt. Adana ist das Zentrum einer historisch extrem aufgeladenen Provinz. Sie grenzt an das Zweistromland; das historische Kilikien war unter den ersten Großmächten der Menschengeschichte stark umkämpft wegen seiner fruchtbaren Böden. Der Komparatist und Dichter Raoul Schrott hat die These aufgestellt, dass Troja in Kilikien liege und Homer ein Bürger Kilikiens gewesen sei, da es hier die einzige Überschneidung des griechischen mit dem assyrischem Kulturraum gegeben habe und Homer sich in der Ilias nachweislich auf Motive aus dem Gilgamesch-Epos bezieht, wofür er auch assyrisch gekonnt haben muss. Kilikien ist ein Ort, der uns helfen kann, eine ganz neue Perspektive auf die Konstruktionen Orient und Okzident zu bekommen und sie grundsätzlich zu hinterfragen.

Seit 65 Jahren befindet sich mit der Nato-Airbase Incirlik mitten in Adana ein Zentrum der militärischen Vorherrschaft der Nato. Von dort aus wurden die Kriege im nahen Osten begonnen, und von dort kamen bis in die jüngste Zeit innenpolitische Impulse, die zuletzt im Putschversuch von 2016 mündeten. Adana ist ein Ort, an dem sich Erzählungen kreuzen, die wir so noch nicht zusammen zu denken gewöhnt sind.

John steht als Figur für die Unberechenbarkeit, die die zahlreichen Kriege  im nahen Osten um Macht und Ressourcen nach sich ziehen. Er steht als militärischer Vertreter einer imperialistischen Großmacht aber auch in einer gewissen militärischen Tradition, die die Assyrer als erstes extrem expansives, imperialistisch agierendes Großreich begründet haben. In gewisser Weise stehen alle Kriegsparteien im Zweistromland ihren Ursprüngen gegenüber und zerstören diese (durch Bombardierungen, Gefechte usw.), in dem sie sich in ihrer Kontinuität bewegen. Das fand ich während meiner Recherchen spannend: der Krieg beseitigt seine eigene Kulturgeschichte. John verkörpert in gewisser Weise die Schattenseite unseres Explorationsdrangs, was nicht bedeutet, dass er weniger menschlich ist als die anderen Figuren. Ich schätze diese Figur, ich mag sie. Sie verkörpert Erinnerung und Erfahrung, die zwar schmerzhaft ist, die aber auch Wissen produziert. Wissen über den Zusammenhang von Leben und Tod, über das Verhältnis von Ideen und Körpern usw.

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